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Aufgabe

Lokführer-Latein

Schwierigkeitsgrad: schwere Aufgabe

Hinweis: Diese Aufgabe wurde uns von Thomas Gabler zur Verfügung gestellt.

Abb. 1 Lok der Baureihe 101

Beim Tag der offenen Tür 1997 am Münchener Ostbahnhof erzählte ein Lokführer, der den Schaulustigen die brandneue Baureihe 101 vorstellte, von der Überführungsfahrt eines der ersten Exemplare von Kassel nach München (wirklich passiert!):

"Auf der Neubaustrecke bis Würzburg sind wir "Stop and Go" gefahren: Einer von uns hat sich ans Steuer gesetzt, die anderen haben sich gut festgehalten. Dann hat er Vollgas gegeben. Ungefähr 25 Sekunden später waren wir auf Tempo 200! Die Beschleunigung war so stark, dass die Stehenden ihre Hand kaum von der Führerstands-Rückwand weg brachten. Einmal ist uns ein Buch vom Führerpult runtergerutscht, das hat den Boden nicht berührt - das ist direkt an die Rückwand geflogen."

Wahrheit oder Lokführer-Latein?

Die Baureihe 101 hat folgende technische Daten: Höchstgeschwindigkeit: \(220\,\frac{{{\rm{km}}}}{{\rm{h}}}\); Maximale Leistung: \(6600\,{\rm{kW}}\); Größtmögliche Zugkraft: \(300\,{\rm{kN}}\); Masse: \(86\,{\rm{t}}\).

Bei allen Rechnungen sollen Reibungseffekte vernachlässigt werden.

a)

Gehe davon aus, dass bei der Lok in der ersten Bewegungsphase eine konstante Kraft (die maximale Zugkraft) solange wirkt, bis im Verlauf der konstant beschleunigten Bewegung die maximale Leistung erreicht ist.

Berechne, welche Endgeschwindigkeit \(v_1\) die Lok in dieser 1. Bewegungsphase erreicht.

Berechne, wie lange die Lok dafür braucht.

b)

Ab der Geschwindigkeit \(v_1\) (der Eisenbahner sagt "ab dem Dauerpunkt") reicht die Leistung der Lok nicht mehr aus, um weiter linear zu beschleunigen.

Berechne, wie lange die Lok braucht, um mit konstanter Leistung weiter bis \(200\frac{{{\rm{km}}}}{{\rm{h}}}\) zu beschleunigen. Tipp: Energie-Ansatz.

Untersuche, ob die Aussage mit den \(25\) Sekunden gelogen ist.

c)

Bestimme die maximale Beschleunigung der Lok.

Untersuche, was von der zweiten Aussage des Lokführers zu halten ist.

d)

Ein Buch rutscht während der Phase maximaler Beschleunigung vom \(1,0\rm{m}\) hohen Führerpult.

Berechne, in welcher Entfernung zum Pult das Buch auf dem Boden aufschlägt.

Untersuche, welche Bahnkurve das Buch aus der Sicht einer Person auf dem Führerstand beschreibt.

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a)

Bei der konstant beschleunigten Bewegung nimmt die Geschwindigkeit linear mit der Zeit zu. Die zu jedem Zeitpunkt eingesetzte Leistung kann nach der Formel\[P(t) = F \cdot v(t)\]bestimmt werden. Aufgrund von \(v \sim t\) gilt auch (da \(F = \rm{const.}\)) \(P \sim t\). Für die maximale Geschwindigkeit in der 1. Bewegungsphase (die durch konstante Beschleunigung gekennzeichnet ist) gilt\[{v_1} = \frac{{{P_{\max }}}}{F} \Rightarrow {v_1} = \frac{{6,6 \cdot {{10}^6}{\rm{W}}}}{{3,0 \cdot {{10}^5}{\rm{N}}}} = 22\frac{{{\rm{N}} \cdot {\rm{m}}}}{{{\rm{s}} \cdot {\rm{N}}}} = 22\frac{{\rm{m}}}{{\rm{s}}} = 79\frac{{{\rm{km}}}}{{\rm{h}}}\]Für die konstant beschleunigte Bewegung ohne Anfangsgeschwindigkeit gilt\[\left. {\begin{array}{*{20}{c}}{{v_1} = a \cdot {t_1} \Leftrightarrow {t_1} = \frac{{{v_1}}}{a}}\\{F = m \cdot a \Leftrightarrow a = \frac{F}{m}}\end{array}} \right\} \Rightarrow {t_1} = \frac{{{v_1} \cdot m}}{F} \Rightarrow {t_1} = \frac{{22\frac{{\rm{m}}}{{\rm{s}}} \cdot 86 \cdot {{10}^3}{\rm{kg}}}}{{3,0 \cdot {{10}^5}{\rm{N}}}} = 6,3{\rm{s}}\]

b)

In der 2. Bewegungsphase nimmt die Geschwindigkeit der Lok von \({v_1} = 79\,\frac{{{\rm{km}}}}{{\rm{h}}} = \frac{{79}}{{3{,}6}}\,\frac{{\rm{m}}}{{\rm{s}}} = 22\,\frac{{\rm{m}}}{{\rm{s}}}\) auf \({v_2} = 200\,\frac{{{\rm{km}}}}{{\rm{h}}} = \frac{{200}}{{3{,}6}}\,\frac{{\rm{m}}}{{\rm{s}}} = 55{,}6\,\frac{{\rm{m}}}{{\rm{s}}}\) zu. Dies bedeutet auch eine Zunahme an kinetischer Energie. Zur Berechnung der Zeit \({{t_2}}\), in der diese Zunahme erfolgt, setzt man an:\[{{E_{{\rm{kin,2}}}} - {E_{{\rm{kin,1}}}} = P \cdot {t_2} \Leftrightarrow {t_2} = \frac{{{E_{{\rm{kin,2}}}} - {E_{{\rm{kin,1}}}}}}{P} = \frac{{\frac{1}{2} \cdot m \cdot \left( {{v_2}^2 - {v_1}^2} \right)}}{P}}\]Einsetzen der gegebenen Werte liefert\[{{t_2} = \frac{{\frac{1}{2} \cdot 86 \cdot {{10}^3}{\rm{kg}} \cdot \left( {{{\left( {55{,}6\frac{{\rm{m}}}{{\rm{s}}}} \right)}^2} - {{\left( {22\,\frac{{\rm{m}}}{{\rm{s}}}} \right)}^2}} \right)}}{{6{,}6 \cdot {{10}^6}\,{\rm{W}}}} = 17\,{\rm{s}}}\]Für die Gesamtzeit \({t_{{\rm{ges}}}}\) gilt dann \({t_{{\rm{ges}}}} = {t_1} + {t_2} = 6,3{\rm{s}} + 17{\rm{s}} = 23,3{\rm{s}}\). Diese Aussage des Lokführers ist richtig gewesen.

c)

Berechnung der maximalen Beschleunigung:\[F = m \cdot a \Leftrightarrow a = \frac{F}{m} \Rightarrow a = \frac{{3,0 \cdot {{10}^5}{\rm{N}}}}{{86 \cdot {{10}^3}{\rm{kg}}}} = 3,5\frac{{\rm{m}}}{{{{\rm{s}}^{\rm{2}}}}} = 0,36g\]Die maximale Beschleunigung ist ungefähr ein Drittel der Erdbeschleunigung. Bei solchen Beschleunigungen bringt man ohne Weiteres noch die Hand von der Führerstands-Rückwand. Also: "Lokführer-Latein"!

d)
Joachim Herz Stiftung
Abb. 2 Skizze zu Teil d)

Die Bewegung des fallenden Buches (Betrachtung vom Führerhaus aus) kann in zwei Komponenten zerlegt werden:x-Komponente: \(x(t) = \frac{1}{2} \cdot a \cdot {t^2}\quad(1)\)y-Komponente: \(y(t) = h - \frac{1}{2} \cdot g \cdot {t^2} \Rightarrow {t_{Fall}} = \sqrt {\frac{{2 \cdot h}}{g}} \quad(2)\)\((2)\) in \((1)\) ergibt\[x(t) = \frac{1}{2} \cdot a \cdot {\sqrt {\frac{{2 \cdot h}}{g}} ^2} = \frac{1}{2} \cdot a \cdot \frac{{2 \cdot h}}{g} = \frac{{a \cdot h}}{g} \Rightarrow x = \frac{{3,5\frac{{\rm{m}}}{{{{\rm{s}}^{\rm{2}}}}} \cdot 1,0{\rm{m}}}}{{9,8\frac{{\rm{m}}}{{{{\rm{s}}^{\rm{2}}}}}}} = 0,36{\rm{m}}\]In der Regel ist das Führerhaus nicht so schmal. Also ist die Behauptung, dass das fallende Buch "direkt an die Rückwand" flog wohl wieder Lokführer-Latein.

Die Bahnkurve erhält man, wenn man das \(t\)-\(x\)- und das \(t\)-\(y\)-Gesetz unter Elimination von \(t\) kombiniert:\[\left. {\begin{array}{*{20}{c}}{x(t) = \frac{1}{2} \cdot a \cdot {t^2} \Rightarrow {t^2} = \frac{{2 \cdot x}}{a}}\\{y = h - \frac{1}{2} \cdot g \cdot {t^2}}\end{array}} \right\} \Rightarrow y = h - \frac{1}{2} \cdot g \cdot \frac{{2 \cdot x}}{a} = h - \frac{g}{a} \cdot x\]Es liegt ein linearer Zusammenhang zwischen \(x\) und \(y\) vor, das Buch beschreibt als Bahnkurve eine abfallende Gerade.

Grundwissen zu dieser Aufgabe

Mechanik

Waagerechter und schräger Wurf