Der deutsche Physiker Philipp LENARD (1862 - 1947) experimentierte bei Heinrich HERTZ in Bonn (1892) sehr intensiv mit Kathodenstrahlröhren. Diese evakuierten Glasröhren enthielten zwei Elektroden, die Kathode K und die Anode A. Legte man den Minuspol einer Hochspannungsquelle an K und den Pluspol an A, so trat aus K eine Strahlung aus (Kathodenstrahlen; später als "Elektronen" bezeichnet), die zu A hin beschleunigt wurde. Die Elektronen konnten die Glasröhre nicht durchdringen, ihre Reichweite war auf die Glasröhre beschränkt.
Untersuchung der Schwächung von Elektronenstrahlung durch verschiedene Metallfolien
LENARD baute nun in eine herkömmliche Kathodenstrahlröhre ein Fenster ein, welches er mit einer sehr dünnen (3μm - 5μm) Aluminiumfolie luftdicht abschloss. Damit die Folie durch den hohen Druckunterschied zwischen Außen- und Innenseite nicht zerstört wurde, stabilisierte sie Lenard durch ein Gitter. Die an die Kathodenstrahlröhre angelegte Hochspannung (HQ) wurde durch einen sogenannten Funkeninduktor erzeugt. Weitere Informationen zum Funkeninduktor kannst du hier einblenden.
Ein Funkeninduktor ist eine Sonderform eines Hochspannungstransformators. Auf einen Eisenkern ist eine Primärspule (rot) mit relativ geringer Windungszahl aufgewickelt. Koaxial zur Primärspule ist die Sekundärspule (grün) mit hoher Windungszahl angebracht. Durch Schließen und Öffnen des Primärstromkreises (rot) mit Hilfe des Wagnerschen Hammers (Selbstunterbrecher) wird in der Primärspule ein Magnetfeld auf- und abgebaut. Das auch die Sekundärspule durchsetzende magnetische Feld induziert in dieser Spule wegen der hohen Windungszahlverhältnisses beim Einschalten und in viel stärkerem Maße beim Ausschalten eine hohe Induktionsspannung, so dass zwischen den Elektroden an der Sekundärspule Funken überschlagen. Lenard hat als Maß für die an die Kathodenstrahlröhre angelegte Spannung die Funkenlänge verwendet.
Es zeigte sich, dass die Elektronen durch das Lenardfenster aus der Röhre treten konnten, also die mehrere Tausend Atomschichten dicke Metallfolie durchdringen konnten. In der Luft ergaben sich dann Fluoreszenzerscheinungen.
Untersuchung der Schwächung von Elektronenstrahlung durch verschiedene Gasschichten
LENARD untersuchte sehr ausführlich die Absorption der Elektronenstrahlung durch verschiedene Metallfolien und Gasschichten bei den unterschiedlichsten Elektronenenergien. Dabei kam er zu den folgenden Versuchsergebnissen:
Elektronen können Metallfolien mit einer Dicke von mehreren Tausend Atomschichten durchdringen. Die Zahl \(N\) der während des Versuchs ungestreut durch die Folie gehenden Elektronen verringert sich mit der Dicke \(x\) der Folie nach dem Exponentialgesetz:
\[N(x) = {N_0} \cdot {e^{ - \alpha \cdot x}}\]
Dabei ist \(N_0\) die Zahl der Elektronen vor der Folie, \(x\) die Foliendicke und \(\alpha\) der sogenannte Absorptionskoeffizient mit der Maßeinheit \(\left[ \alpha \right] = \frac{1}{{\rm{m}}}\).
Die Herleitung dieses Exponentialgesetzes aus einfachen Annahmen können sich Experten einblenden lassen.
In der folgenden - stark vereinfachenden - Modellrechnung wird das exponentielle Schwächungsgesetz theoretisch hergeleitet. Darüber hinaus ist eine mikroskopische Deutung des Absorptionskoeffizienten \(\alpha\) möglich.
Der Kreis mit dem Radius \({r_{\rm{A}}}\) veranschaulicht den Querschnitt eines Atoms in der Metallfolie. Die Kreise mit \({r_{\rm{G}}}\) stellen die Querschnitte von Geschossen dar. Ein Geschoss tritt mit dem Atom dann in Wechselwirkung (Vereinfachung: nur kurzreichweitige Wechselwirkung), wenn es in die gestrichelt dargestellte Kreisscheibe mit \(r = {r_{\rm{A}}} + {r_{\rm{G}}}\) trifft. Die Fläche dieser Kreisscheibe bezeichnet man als Wirkungsquerschnitt \(\sigma \), d.h. es gilt
\[\sigma = \pi \cdot {\left( {{r_{\rm{A}}} + {r_{\rm{G}}}} \right)^2}\].
Weiter wird angenommen, dass die Atome der durchstrahlten Schicht mit der Dicke \(\Delta x\) einen festen Platz einnehmen und so verteilt sind, dass sich ihre Querschnitte in Bezug auf die Strahlrichtung nicht überdecken.
Es werde nun eine Schicht der Dicke \(\Delta x\) mit der Querschnittsfläche \(A\) durchstrahlt. Die Zahl der Atome in diesem Volumenelement sei \(Z\). Für die Wahrscheinlichkeit \(p\), dass ein Geschoss mit einem Atom zusammenstößt gilt dann
\[p = \frac{{{\rm{Fläche}}\;{\rm{aller}}\;{\rm{Atome}}\;{\rm{in}}\;{\rm{der}}\;{\rm{Schicht}}}}{{{\rm{Querschnittsfläche}}\;{\rm{der}}\;{\rm{Schicht}}}} = \frac{{Z \cdot \sigma }}{A} = \frac{{Z \cdot \pi \cdot {{\left( {{r_{\rm{A}}} + {r_{\rm{G}}}} \right)}^2}}}{A}\]
Bezeichnet man die Teilchenzahldichte der Atome im Folienmaterial mit \(z\) mit \(\left[ z \right] = \frac{1}{{{{\rm{m}}^3}}}\), so gilt
\[p = \frac{{z \cdot A \cdot \Delta x}}{A} \cdot \pi \cdot {\left( {{r_{\rm{A}}} + {r_{\rm{G}}}} \right)^2} = z \cdot \Delta x \cdot \sigma \]
Werden nun \(N(x)\) Geschosse auf eine Schicht der Dicke \(\Delta x\) und der Fläche \(A\) in der Tiefe \(x\) geschossen, so nimmt die Zahl der ungestreuten Geschoße um \(\Delta N = N(x) - N(x + \Delta x)\) ab. Die Zahl der aus dem Strahl herausgestreuten Geschosse ist proportional zur Zahl der ankommenden Teilchen. Es gilt also
\[\Delta N = N(x) - N(x + \Delta x) = p \cdot N(x) = z \cdot \sigma \cdot \Delta x \cdot N(x)\]
Hieraus ergibt sich
\[\frac{{N(x) - N(x + \Delta x)}}{{\Delta x}} = z \cdot \sigma \cdot N(x) \Leftrightarrow \frac{{N(x + \Delta x) - N(x)}}{{\Delta x}} = - N(x) \cdot z \cdot \sigma \Leftrightarrow \frac{{\Delta N}}{{\Delta x}} = - N(x) \cdot z \cdot \sigma \]
Für sehr kleine \(\Delta x\) kann man \(\frac{{\Delta N}}{{\Delta x}}\) durch \(\frac{{dN}}{{dx}}\) ersetzen. Setzt man in die letzte Beziehung ein, so ergibt sich
\[\frac{{dN}}{{dx}} =-N \cdot z \cdot \sigma \Leftrightarrow \frac{1}{N} \cdot dN =-z \cdot \sigma \cdot dx \Leftrightarrow \int {\frac{1}{N} \cdot dN} = \int {-z \cdot \sigma \cdot dx} \Leftrightarrow \ln \left( N \right) =-z \cdot \sigma \cdot x + C \Leftrightarrow N = {e^{-z \cdot \sigma \cdot x + C}} = {e^{-z \cdot \sigma \cdot x}} \cdot {e^C}\]
Die Integrationskonstante \(C\) kann aus der Nebenbedingung: \(N(x = 0) = N_0\) berechnet werden; es ergibt sich \({e^C} = {N_0}\). Somit ergibt die stark vereinfachte Modellrechnung ein Ergebnis, das LENARD auch im Experiment feststellen konnte:
\[N(x) = {N_0} \cdot {e^{-z \cdot \sigma \cdot x}}\]
Ein Vergleich mit der auf der Hauptseite angegebenen Exponentialfunktion zeigt, dass man für den Absorptionskoeffizienten \(\alpha\) schreiben kann
\[\alpha = z \cdot \sigma \Leftrightarrow \sigma = \frac{\alpha }{z}\]
Hieraus sieht man, dass eine Messung des Absorptionskoeffizienten eine Aussage über den Wirkungsquerschnitt zulässt.
Für langsame Elektronen ergaben die Messungen Lenards einen Wert, der dem durch die kinetische Gastheorie vorhergesagten Atomquerschnitt entspricht (ca. \({10^{ - 19}}{{\rm{m}}^2}\)). Für sehr hohe Elektronengeschwindigkeiten fällt \(\sigma \) um viele Zehnerpotenzen. Die effektive Streufläche eines Atoms hat z.B. für Elektronen mit ca. 10% der Lichtgeschwindigkeit nur noch ca. ein Millionstel des gaskinetischen Querschnitts.
Bei konstanter Elektronengeschwindigkeit erweist sich der Absorptionskoeffizient a als nahezu proportional zur Dichte \(\rho\) des Streumaterials. Die Schwächung des Strahls hängt also praktisch nur von der Masse der durchstrahlten Probe (bei gleicher Probenfläche) und nicht von der Art der Probe ab. Diese Erkenntnis bezeichnet man als Lenardsches Massenabsorptionsgesetz.
Diese Tatsache ist über einen Dichtebereich von mehr als sieben Zehnerpotenzen (vom verdünnten Wasserstoffgas bis zur Goldfolie) besser als 10% erfüllt.
Bei vorgegebenem Streumaterial nimmt der Absorptionskoeffizient \(\alpha\) mit zunehmender Elektronengeschwindigkeit stark ab, d.h. schnellere Elektronen sind durchdringender. Diese Erkenntnis führte schließlich zum Vorläufer des rutherfordschen Atommodells, dem von LENARD entwickelten Dynamidenmodell.
Die nebenstehende Abbildung zeigt einen kleinen Ausschnitt aus den Absorptionsmessungen LENARDs:
Auf der Hochwertachse ist der Quotient aus Absorptionskoeffizient und Dichte aufgetragen. Dabei bedeuten die rot geschriebenen Zehnerpotenzen, mit welchem Faktor dieser Quotient α/ρ bei der jeweiligen Kurve multipliziert werden muss.
Auf der Rechtswertachse ist der Quotient aus Elektronengeschwindigkeit und Lichtgeschwindigkeit aufgetragen.