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Geschichte

Isaac NEWTON korrigiert René DESCARTES

Hinweis: Es handelt sich hier um einen Aufsatz von Prof. Roman Sexl, Universität Wien.

Isaac NEWTON (1643 - 1727); von Sir Godfrey Kneller [Public domain], via Wikimedia Commons

Ein Jahr vor dem Erscheinen von Descartes "Principia Philosophiae" wurde Isaac NEWTON (1643-1727) in England als Sohn eines Bauern geboren. Er hatte das Glück, einen Pfarrer zum Onkel zu haben, der ihm den Besuch von Schulen ermöglichte.

Die Kindheit und Jugend NEWTONs fällt in eine bedeutende Umbruchszeit in der Physik. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts sammelten sich die zunächst zerstreuten Amateure, also Liebhaber, der physikalischen Wissenschaften allmählich in Akademien, die allenthalben gegründet wurden. So entstand in Italien die Accademia dei Cimento, in Frankreich die Academie des Sciences und in England die Royal Academy. Wie die Ordnung der wissenschaftlichen Welt, so war auch das Weltbild im Umbruch. Kopernikus stand gegen Aristoteles, wobei nicht nur die Frage der Planetenbewegungen, sondern auch die mögliche Existenz des leeren Raumes die Gemüter erregte. Torricelli in Italien, Pascal in Frankreich, Guericke in Deutschland und Boyle und Hooke in England beschäftigten sich mit der Herstellung von Vakua, und die Unhaltbarkeit der Position von Aristoteles und Descartes wurde allmählich klar.

Die alte Physik war brüchig geworden, zersetzt durch eine Kritik, die bereits im Mittelalter eingesetzt hatte, und in Kopernikus, Galilei und Kepler Höhepunkte erreichte. Descartes' Neubau war voreilig und unausgereift. Doch mit Keplers Ellipsen, Galileis Überlegungen zur Mechanik, Huygens Theorie der Pendeluhr und vielen anderen kleineren Beiträgen standen bereits einige Baumaterialien für das großartige Gebäude der NEWTONschen Physik zur Verfügung. Einzelne Blöcke waren es, die herumlagen, und denen noch niemand ihren Verwendungszweck ansehen konnte. Die Synthese, der große Bauplan, fehlte.

Titelblatt der Principiae; von Zhaladshar at en.wikisource [Public domain],
vom Wikimedia Commons

Unter der Leitung seines Lehrers Isaac Barrow beschäftigte sich NEWTON in Cambridge zunächst mit Problemen der Optik und baute auch die Mathematik seiner Zeit aus. In ständiger Konkurrenz mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) schuf er die Infinitesimalrechnung, also die Lehre von den stetigen Veränderungen mathematischer Größen. Sie war wesentliche Voraussetzung für den folgenden Neuaufbau der Physik. Viele Teilergebnisse dazu gewann bereits der zweiundzwanzigjährige Newton, doch erst der Dreiundvierzigjährige veröffentlichte 1686 die "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica", die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie. Kernstück der "Principia", wie das Werk meist kurz genannt wird, sind die Axiome oder Bewegungsgesetze. Sie lauten in moderner Formulierung:

Erstes NEWTONsches Gesetz

Jeder Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung, solange keine äußere Kraft auf ihn wirkt.

Zweites NEWTONsches Gesetz

Kraft ist Masse mal Beschleunigung. Ausführlicher formuliert bedeutet dies, dass ein Körper unter der Wirkung einer äußeren Kraft eine Beschleunigung erfährt, also seine Geschwindigkeit verändert. Die Beschleunigung ist der Kraft gleichgerichtet und proportional, der Masse des Körpers dagegen umgekehrt proportional.

Drittes NEWTONsches Gesetz

Die Kräfte, die zwei Körper aufeinander ausüben sind stets gleich groß, weisen jedoch entgegengesetzte Richtungen auf.

Ausgehend von diesen Grundsteinen wird mit atemberaubender Folgerichtigkeit das Gebäude der NEWTONschen Mechanik errichtet. Dazu ist es lediglich erforderlich, die jeweils zwischen den betrachteten Körpern wirkenden Kräfte anzugeben.

NEWTONs Physik vereinigt Himmel und Erde in einer einheitlichen Mechanik. In dieser berühmten Zeichnung zeigte NEWTON, wie der Übergang von der irdischen Wurfparabel zur Ellipsenbahn der Planeten gedacht werden kann.

NEWTONs Mechanik orientierte sich in ihrem axiomatischen Aufbau an den richtungweisenden "Elementen" des Euklid, die durch Jahrhunderte als Musterbeispiel wissenschaftlicher Exaktheit gegolten hatten. Von unmittelbar einsichtigen Axiomen ausgehend war Euklid in der Lage, ein System immer komplizierterer Lehrsätze und Theoreme herzuleiten. In ähnlicher Weise kann auch Newton immer kompliziertere physikalische Systeme mit seiner Theorie behandeln. So folgen bald die keplerschen Gesetze der Planetenbewegungen aus dem universellen Gravitationsgesetz, das eine anziehende Kraft zwischen allen Körpern annimmt, die dem Quadrat der Entfernung umgekehrt proportional ist. Die Ellipsenbahnen Keplers erscheinen nicht mehr dem Zufall preisgegeben, sondern als systematische Folge eines allgemeinen Gesetzes. Erst damit ist der Verlust von Aristoteles' gleichförmig durchlaufenen Kreisbahnen zu verschmerzen. Aber mehr noch, nicht nur die Gesetze der Planetenbewegung folgen, sondern auch die irdischen Fallgesetze. Die gleiche Kraft, die auf Erden alle Gegenstände nach unten fallen lässt, zwingt auch den Mond auf seine Bahn um die Erde. Und es ist auch die gleiche Kraft, welche die Erde selbst an die Sonne bindet.

Himmlische und irdische Physik sind nun endlich vereint. Und noch mehr: die Kometen, die dereinst die kristallinen Sphären des Aristoteles zertrümmerten, auch sie müssen sich der Physik NEWTONs fügen. Es zeigt sich, dass sie das Sonnensystem auf einer parabelförmigen oder hyperbolischen Bahn durchlaufen, deren Gesetzmäßigkeit NEWTON herleiten kann. Der Triumph ist vollkommen.

Der Raum als Organ Gottes

Die drei Bewegungsgesetze, die NEWTON an die Spitze der "Principia" gestellt hatte, bleiben auch heute die Grundlage jeder Einführung in die Physik. Dem heutigen Studenten erscheinen sie oft als Idealtyp physikalischer Gesetze. Aus dem Experiment hergeleitet, bewähren sie sich in zahllosen Situationen und lassen uns die Bewegung aller Körper in der Mechanik berechnen. Und doch deckt eine nähere Analyse einige merkwürdige Tatsachen auf. In der Mathematik hatte Euklid strikt darauf geachtet, dass jedes seiner Axiome von den anderen unabhängig ist. Kein Axiom durfte aus den anderen folgen, sonst wäre es wohl als Lehrsatz zu bezeichnen.

Anders steht es um die NEWTONschen Axiome. Das zweite Gesetz besagt, dass sich ein Körper beschleunigt bewegt, falls eine Kraft auf ihn wirkt. Verschwindet die Kraft, so fällt auch die Beschleunigung weg - und der Körper bewegt sich geradlinig gleichförmig. Dies ist aber gerade der Inhalt des ersten Gesetzes, das also nur einen Spezialfall des zweiten Gesetzes darstellt.

Auch NEWTON war sicher bewusst, dass die ersten beiden Gesetze seiner Mechanik nicht voneinander unabhängig sind. Warum hat er das erste Gesetz aufgeschrieben, obgleich es entbehrlich ist? Die Antwort ergibt sich aus der historischen Situation: Die gleichförmig durchlaufene Kreisbahn war das Ideal von Aristoteles' Physik gewesen. In ihrer Vollkommenheit bedurfte sie keiner weiteren Begründung und eine Bewegung galt als erklärt, wenn sie auf Kreisbahnen zurückgeführt war. Dieses Erklärungsprinzip hatte Aristoteles aber ausdrücklich auf die himmlischen Sphären, auf die Physik des Äthers, beschränkt. Die irdische Materie folgte ja bei ihm anderen Gesetzen und bewegte sich stets auf ihren natürlichen Ort zu. Auch Kopernikus, Galilei und Kepler hatten die strenge Trennung irdischer und himmlischer Physik nicht aufzuheben vermocht.

Nunmehr legte NEWTON ein neues Erklärungsprinzip vor, das für Himmel und Erde gelten sollte. Die gleichmäßige Bewegung eines Körpers auf gerader Linie war so einfach, dass sie keiner weiteren Erklärung bedurfte. Nur Abweichungen davon waren zu begründen, und dafür waren die im zweiten Grundgesetz eingeführten Kräfte zuständig. Ein neues Erklärungsprinzip war gefunden, das für Himmel und Erde zuständig sein sollte. Die alte Unterscheidung war gefallen. Für die Physik des Irdischen hatte bereits Galilei die gleichmäßige Weiterbewegung eines kräftefreien Körpers gefunden, doch wagte erst Newton, dieses Prinzip auf den gesamten Kosmos anzuwenden.

Gott als kosmischer Gastarbeiter

Das neue Weltbild, das Newton in seinen "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica" gegeben hatte, setzte sich nur langsam durch. Besonders auf dem europäischen Festland war die globale Weltsicht Descartes noch lange vorherrschend, wie Voltaire in seinen berühmten "Philosophischen Briefen" im Jahre 1733 schrieb:

"Ein Franzose, der in London ankommt, findet dort die Philosophie ebenso verändert vor wie alle übrigen Dinge. Er verlässt eine erfüllte Welt, er findet eine leere Welt. In Paris sieht man das Universum aus Wirbeln feinster Materie zusammengesetzt, in London sieht man nichts davon. Bei uns ist es der Druck des Mondes, der die Gezeiten verursacht; bei den Engländern ist es das Meer, das vom Monde angezogen wird. Für euch Cartesianer geschieht alles durch einen Druck, den niemand versteht, für Herrn Newton durch eine Anziehung, deren Grund man auch nicht besser kennt."

Aber nicht nur mit den "Philosophischen Briefen", die Voltaire im Exil in England schrieb, sondern auch mit einem Lehrbuch der Physik trug der große französische Schriftsteller wesentlich zur Verbreitung von Newtons Ideen bei.

Die newtonsche Physik bewährte sich auch in kosmischen Maßstäben. In den "Principia" hatten ja nicht nur die Ellipsenbahnen der Planeten ihre Erklärung gefunden, sondern auch die kleinen Abweichungen der Planetenbahnen von der Ellipsenform wurden verständlich. Ihre Ursache war die gegenseitige Störung der Planeten durch deren wechselseitige Gravitationsanziehung. Besonders wichtig war dieser Effekt für Jupiter und Saturn, die beiden größten Planeten des Sonnensystems. Die Beobachtungen zeigten, dass diese Planeten immer weiter von ihren ursprünglichen Bahnen abwichen.

Dieses Ergebnis beunruhigte Newton. Das Sonnensystem schien unstabil zu sein. Zerstörte dies nicht die gesamte Grundlage seiner Physik? Im Briefwechsel zwischen Clarke, einem Schüler Newtons, und dem Philosophen, Mathematiker und Physiker Leibniz wurde dieser Punkt leidenschaftlich diskutiert. Newton und Clarke waren der Meinung, dass Gott als "kosmischer Gastarbeiter" von Zeit zu Zeit eingreifen würde, um das Planetensystem wieder in Ordnung zu bringen: "Es ist keine Herabsetzung Gottes, sondern die wahre Verherrlichung seiner Werke, wenn man sagt, dass nichts ohne seine immerwährende Leitung und Aufsicht vor sich geht. Der gegenwärtige Bau des Sonnensystems wird nach den jetzt geltenden Bewegungsgesetzen im Laufe der Zeit in Verwirrung geraten und dann vielleicht verbessert werden."

Damit war Leibniz nicht einverstanden. Ein Sonnensystem, in das Gott immer wieder eingreifen muss, um die Planeten zurechtzurücken, schien ihm unvollkommen: "Nach Newtons Ansicht muss Gott von Zeit zu Zeit seine Uhr (das Planetensystem) aufziehen sonst bliebe sie stehen. Er hat nicht genügend Einsicht besessen, um ihr eine immerwährende Bewegung zu verleihen. Der Mechanismus, den er geschaffen, ist so unvollkommen, dass er ihn von Zeit zu Zeit ausbessern muss wie ein schlechter Uhrmacher sein Werk."

Darauf entgegnete Clarke: "Die Verbesserung des Planetensystems durch Gott ist nur relativ zu verstehen. In Wirklichkeit sind für Gott der gegenwärtige Bau, die spätere Unordnung und die folgende Wiedererneuerung alle in gleicher Weise Teile eines Plans, den er sich in seiner ursprünglichen, vollkommenen Idee vorgezeichnet hat." Diese Kontroverse zeigt einmal mehr, welche bedeutende Rolle theologische Argumente bei der Begründung der Naturwissenschaft spielten. Newton selbst hatte sich ja ausführlich mit Theologie beschäftigt und ein Werk über den Propheten Daniel und die Apokalypse veröffentlicht.

Das Problem der Bahnstörungen von Jupiter und Saturn beschäftigte die berühmtesten Physiker und Astronomen noch über ein Jahrhundert. Erst im Jahre 1799 fand Pierre Simon Laplace (1749-1827) eine physikalische Lösung der Problematik der »großen Anomalie von Jupiter und Saturn«. Während zweier Umläufe des Saturn um die Sonne legt nämlich Jupiter seine Bahn fünfmal zurück. Dadurch kommen die beiden Planeten immer wieder an derselben Stelle einander nahe und die Wirkung der Störungen schaukelt sich langsam auf. Aber nur rund fünfhundert Jahre lang tritt dieser Effekt auf. Da das Verhältnis der Umlaufdauer nicht exakt 2:5 ist, verschiebt sich allmählich der Punkt größter Annäherung und die Planeten kehren nach neunhundert Jahren wieder auf ihre ursprünglichen Bahnen zurück.

Damit hatte "Gott als kosmischer Gastarbeiter" seine Kurzzeitbeschäftigung im Universum eingebüßt. Auf Napoleons Frage nach Gott antwortete Laplace zu Beginn des 19. Jahrhunderts: "Sire, ich brauche diese Hypothese nicht." Innerhalb eines Jahrhunderts hatten sich die Beziehungen von Physik und Theologie völlig gewandelt.

Das mechanische Universum

Newtons Universum war von einem biblischen Gott geschaffen, der seine Schöpfung persönlich betreute und immer wieder korrigierend oder helfend eingriff, um für die wohlbegründete Ordnung des Seins zu sorgen. Nur unter seiner ständigen Leitung konnte das Weltganze ablaufen, und aus diesem Ablauf ergab sich geradezu ein Beweis für die Existenz Gottes, wie Newton in einem Brief an Richard Bentley im Jahre 1693 schrieb:

"In meinen früheren Briefen habe ich dargelegt, dass die täglichen Umdrehungen der Planeten nicht aus der Gravitation abgeleitet werden können, sondern einer göttlichen Hand bedürfen, die ihnen diese Bewegungen einprägte. Die Gravitation könnte wohl den Planeten eine Fallbewegung gegen die Sonne hin erteilen, entweder in direkter oder in einer geringeren schiefen Richtung, jedoch bedurften die transversalen Bewegungen, vermöge derer die Planeten in ihren verschiedenen Kreisbahnen laufen, der göttlichen Hand, die ihnen eine Bewegung in Richtung der Tangenten dieser Kreise auferlegte. Ich möchte nun hinzufügen, dass die Hypothese einer anfangs gleichmäßig im Weltraum verteilten Materie meiner Meinung nach mit der Hypothese einer dieser inne- wohnenden Anziehungskraft unvereinbar wäre, wenn man keine über- natürliche Macht annimmt."

Im physikalisch Unerklärbaren sah Newton einen Beweis für die Existenz Gottes. Als die Physik jedoch im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr und mehr erklären konnte, immer weniger physikalisch Unerklärbares zurückblieb, wurde Gott allmählich immer mehr zu- rückgedrängt und das Universum zu einer großen Maschine erklärt, zur entseelten Weltmaschine, von der Laplace behaupten durfte: "Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren Zustands und andererseits als Ursache des Darauffolgenden betrachten. Ein >Geist<, der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennen würde, von denen die Natur belebt ist, sowie die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, und der überdies umfassend genug wäre, um diese Gegebenheiten zu analysieren, könnte mit derselben Formel die Bewegung der größten Weltkörper und des kleinsten Atoms ausdrücken. Nichts wäre für ihn ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen offen vor seinen Augen".

Der Schritt von der Allmacht Gottes zur Allmacht der Physik war getan. Es war nur konsequent, dass auch der Mensch nur als Rädchen im Wechselspiel der großen Weltmaschine betrachtet wurde.

Die Mechanik hat den Triumph des Materialismus mit sich gebracht. Ihr Siegeszug schloss im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich auch alle Erscheinungen der Wärmelehre in sich ein. Doch sah das gleiche Jahrhundert auch den Siegeszug des deutschen Idealismus und damit verknüpft die Auflösung des primitiven Materiebegriffes der Physik, wie die Geschichte der Elektrodynamik lehren wird.