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Geschichte

Der Weg zum physikalischen Kraftbegriff von ARISTOTELES bis NEWTON

Basisartikel von H. Schrecker in NiU-PC 36 (1988) Nr. 34 - gekürzt

Einleitung

Kraft wird heute dynamisch als Ursache der zeitlichen Änderung des Bewegungszustands eines Körpers definiert. Vor dieser auf Newton zurückgehenden Festlegung lagen viele Jahrhunderte, in denen andere Kraftkonzepte verfolgt wurden. Newton vollzog den entscheidenden Schritt, Kraft nicht mehr, wie bei Aristoteles oder in der Impetustheorie, zur Erklärung der Bewegung selbst einzuführen, sondern zur Beschreibung der Änderung eines Bewegungszustands. Aber auch nach Veröffentlichung der 'Principia' mit den drei berühmten Axiomen von Newton im Jahre 1687 dauerte es bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, bis sich in der Physikergemeinschaft eine bewusste, klare Trennung zwischen den Konzepten Kraft und Energie etabliert hatte. Interessant ist die historische Genese des Zusammenhangs von Kraft und Bewegung auch durch die Parallelität mancher Schülervorstellungen zur Mechanik mit historischen Denkweisen. Die Ideengeschichte des Kraftkonzepts kann das Verständnis von Lernschwierigkeiten fördern, die in der Mechanik bekanntermaßen groß sind.

Die Bewegungslehre des Aristoteles

[Public domain], via Wikimedia Commons
ARISTOTELES (384 - 322 v. Chr.)

Aristoteles (384 bis 322 v.Chr.) teilt irdische Bewegungen in zwei Klassen ein: in "natürliche" und "erzwungene". Im geordneten Universum des Aristoteles hat jeder Körper die innere Tendenz, sich in natürlicher Bewegung dem ihm zukommenden Ort zu nähern: Das Leichte strebt nach oben, das Schwere nach unten. Aus diesem Grunde steigen Luftblasen im Wasser nach oben und fällt ein Stein zu Boden. Im Gegensatz zu den natürlichen Bewegungen erfordern erzwungene Bewegungen einen aktiven äußeren Beweger, bzw. eine ständig wirkende Kraft. Nur dadurch kann sich ein Körper von seinem natürlichen Ort entfernen oder von einer natürlichen Bewegung abweichen. Der Begriff "Kraft" bezeichnet in zwei miteinander verwobenen Bedeutungen eine Bewegungsfähigkeit, die vom speziellen Beweger abstrahiert ist. Zum einen ist Kraft das Vermögen, einen Körper in einer bestimmten Zeit über eine Strecke zu bewegen (Arbeits-/Leistungsfähigkeit gegen Reibungskräfte); zum anderen benennt Kraft die Fähigkeit, einen Körper aus dem "natürlichen" Ruhestand in Bewegung zu setzen (Kompensation der Haftreibungskraft). Das aristotelische Kraftkonzept ist in Alltagssituationen gut anwendbar. Bei Bewegung unter dem Einfluss starker Reibungskräfte liegt seine Verwendung näher als die des newtonschen Konzepts. Viele Schülervorstellungen entsprechen einer aristotelischen Sichtweise:

  • Ein Körper bewegt sich nur bei ständiger Krafteinwirkung.

  • Je größer die Kraft, desto größer die Geschwindigkeit.

  • Kraft bedeutet Bewegungs- oder Wirkungsvermögen.

  • Ruhe und Bewegung sind wesensmäßig zu unterscheidende Zustände.

Die Schriften des Aristoteles beherrschten nach ihrer Wiederentdeckung im 12. Jahrhundert das scholastische Denken bis hin zur kopernikanisch-galileischen Wende. In arge Probleme geriet die aristotelische Bewegungslehre bei der Erklärung der Wurfbewegung. Das Prinzip "Alles Bewegte wird von etwas bewegt" musste auch gelten, wenn der Stein die Hand des Werfers verlassen hat. Als Beweger kam nur das Medium, die Luft, in Frage. Wodurch aber wird wiederum die Luft bewegt? Die Wurfbewegung wurde zu einem zentralen Problem der antiken und mittelalterlichen Mechanik. Einen wesentlichen Erkenntnisfortschritt brachte die Impetustheorie.

 


Die Impetustheorie oder das Prinzip der eingeprägten Kraft

Unter dem Begriff Impetustheorie wird eine Gruppe von Bewegungslehren zusammengefasst, die im 13. und 14. Jahrhundert als Kritik an Aristoteles bedeutsam wurden. Ihren gemeinsamen Kern kann man in fünf Aussagen zusammenfassen:

  • Ein Körper bewegt sich aufgrund einer ihm "eingeprägten Kraft", dem Impetus.

  • Diese Kraft wurde auf den Körper beim Vorgang des In-Bewegung-Setzens von einem ersten Beweger übertragen oder durch Kontakt (Stoß) von einem anderen bewegten Körper übermittelt.

  • Ein Körper kann um so mehr Impetus aufnehmen, je schwerer er ist.

  • Die Bewegungsstärke (Wucht) eines Körpers ist dem Impetus proportional.

  • Der im Körper befindliche Impetus erschlafft mit der Zeit. Dies geschieht entweder von allein, oder es wird durch den Widerstand des Mediums bewirkt, bzw. verstärkt.

Dies ist gleichzeitig eine gute Beschreibung weit verbreiteter Schülervorstellungen. Der große Fortschritt gegenüber Aristoteles bestand im Fortfall des externen Bewegers. Durch den Übergang der Kraft auf den bewegten, bzw. "sich bewegenden" Körper wurde es möglich, das Medium als Widerstand gegen eine Bewegung zu betrachten. Der Widerstand wurde jedoch nicht als äußere Kraft konzeptualisiert, denn auch die Impetustheoretiker sahen in der Kraft noch die Ursache der Bewegung selbst, nicht der Bewegungsänderung. Die Impetustheorie brach nicht vollständig mit der aristotelischen Bewegungslehre. Beibehalten wurde die Proportionalität von (eingeprägter) Kraft und Geschwindigkeit. Es blieb offen, ob das Erschlaffen des Impetus durch das Medium bewirkt oder nur verstärkt wird. Die Existenz des Vakuums wurde kaum in Erwägung gezogen. Der Trägheitssatz lag noch in weiter Ferne. Seiner Entwicklung stand die Fesselung des Denkens durch die unmittelbare, augenscheinliche Erfahrung im Wege.

Ein Text zur Impetustheorie von Johannes Buridan (1295 – 1366)

Wir müssen schließen, dass ein Beweger, wenn er einen Körper bewegt, diesem einen bestimmten Impetus aufdrückt, eine bestimmte Kraft, die diesen Körper in der Richtung weiterzubewegen vermag, die ihm der Beweger gegeben hat, sei es nach oben, nach unten, seitwärts oder im Kreis. Der mitgeteilte Impetus ist in dem gleichen Maße kraftvoller, je größer der Aufwand an Kraft ist, mit dem der Beweger dem Körper Geschwindigkeit verleiht. Durch diesen Impetus wird der Stein weiterbewegt, nachdem der Werfer aufgehört hat, ihn zu bewegen. Aber wegen des Widerstandes der Luft und auch der Schwerkraft des Steins, die ihn ständig in eine dem Streben des Impetus entgegengesetzte Richtung zwingen möchte, wird der Impetus immer schwächer. Darum muss die Bewegung des Steins allmählich immer langsamer werden. Schließlich ist der Impetus so weit geschwächt oder vernichtet, dass die Schwerkraft des Steins überwiegt und den Stein abwärts zu seinem natürlichen Ort bewegt.

Galilei: Wegbereiter einer neuen Weise der Naturbetrachtung

Justus Sustermans [Public domain], via Wikimedia Commons
Galileo GALILEI (1564 - 1642)

Die an den Namen Galilei und Newton festzumachende Wende des physikalischen Denkens besteht in der Annahme, die eigentliche Ordnung der Dinge erschließe sich erst durch die gedankliche Konstruktion prototypischer, reiner Phänomene, die in der Anfass- und Vorzeigerealität nicht unmittelbar vorfindbar sind. Man kann die newtonsche Dynamik nicht verstehen, ohne diesen grundlegenden Wandel mitzuvollziehen. Hier liegen verborgene Ursachen vieler Lernschwierigkeiten von Schülern. Ich möchte das Problem an einem Aristoteles-Zitat verdeutlichen. Aristoteles begründet darin seine Ablehnung der Existenz des leeren Raumes anhand der "absurden" Bewegungsformen, die Körper im Vakuum erfahren müssten:

"Niemand wäre in der Lage, einen Grund anzugeben, weshalb dasjenige, das in Bewegung gesetzt worden ist, irgendwo einmal stehen bleiben sollte. Denn wieso sollte dies eher hier als dort geschehen? Also wird (im Vakuum, d.Verf.) alles entweder immer in Ruhe bleiben oder notwendigerweise ins Unbegrenzte weiterbewegt werden."

Diese Schlussfolgerung stimmt mit dem Trägheitssatz überein. Aristoteles dient sie jedoch als Beweis für die Unsinnigkeit, von der Existenz des Vakuums auszugehen, denn die unmittelbare Erfahrung lehrt, dass alle Bewegungen zur Ruhe kommen. Galilei (1564 bis 1642) konstruiert im Gegensatz dazu seine Gedankenexperimente unter idealen, nirgendwo in Vollkommenheit realisierbaren Randbedingungen. Wir illustrieren die Methode an Überlegungen, die Galilei zu einer Vorstufe des Trägheitssatzes führten:

"Wir müssen die Annahme machen, dass die Ebene sozusagen immateriell ist, oder zumindest sehr sorgfältig geglättet und absolut fest.. Und der in Bewegung befindliche Körper muss absolut glatt sein, von einer Gestalt, die der Bewegung keinen Widerstand entgegensetzt, z.B. von perfekter Kugelgestalt, und er muss aus dem härtesten Material bestehen oder sonst aus einer Flüssigkeit wie Wasser. Wenn alle diese Vorkehrungen getroffen sind, dann wird jeder Körper auf einer Ebene, die parallel zum Horizont verläuft, von der kleinsten Kraft bewegt werden, ja von einer Kraft, die geringer ist als jegliche gegebene Kraft."

Im Dialog über die Weltsysteme benutzt Galilei diesen Gedankengang um zu beweisen, dass ein Stein der von der Mastspitze eines fahrenden Schiffes fällt, am Mastfuß aufkommt und nicht etwa am Heck, obwohl keine bewegende Kraft auf ihn einwirkt.

Newton: Die Grundsätze oder Gesetze der Bewegung

In der berühmten Schrift "Principia" lautet der Trägheitssatz:

1. Gesetz der Principia

Lex. I.
Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus illud a viribus impressis cogitur statum suum mutare.

1. Gesetz:
Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern

Sir Godfrey Kneller [Public domain], via Wikimedia Commons Sir Godfrey Kneller
Isaac NEWTON (1643 - 1727)

Eine von jeglichen Einzelkräften freie Bewegung kann nur ein gedanklicher Entwurf sein – dennoch ist sie Ausgangspunkt der newtonschen Dynamik. Der newtonsche Kraftbegriff beruht auf dem Entschluss, alle Einwirkungen auf einen Körper, die zu Änderungen seines Bewegungszustands führen, als Kräfte zu konzeptionalisieren, auch die bisher als ‚Widerstände’ ausgeblendeten hemmenden Einflüsse eines Mediums.

Die newtonsche Kraft beschreibt die Intensität und Richtung der Wechselwirkung zweier Körper. Kraft ist keine Eigenschaft eines Köpers, sie ist im Gegensatz zum Impetus weder speicher- noch übertragbar.

Newton arbeitet mit geometrischen Darstellungen der Grenzwerte von Strecken- und Flächenverhältnissen. Man findet in den ‚Principia’ Gleichungen des Typs "\(F = m \cdot a\)" nicht. Es lohnt sich daher, das 2. Bewegungsgesetz genauer zu betrachten.

2. Gesetz der Principia

Lex. II.
Mutationem motus proportionalem ess vi motrici impressae et fieri secundum lineam rectam qua vis illa imprimitur.

2. Gesetz:
Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt.

"Einwirkung der bewegenden Kraft" verweist auf die zeitliche Dauer der Impulsänderung. In Formelschreibweise lautet die angemessene Fassung \(\Delta p \sim F \cdot \Delta t\) (die Formel \(F = m \cdot a\) stammt von Euler). Die Verwendung des Wortes "Kraft" ist in den ‚Principia’ jedoch nicht eindeutig. Kraft ist wohl nicht als Wechselwirkungsintensität zu deuten, sondern als Kraftstoß \(F \cdot \Delta t\), der einen Zusatzimpuls \(\Delta p\) bewirkt.

Auch das 3. Axiom ist einer näheren Betrachtung wert:

3. Gesetz der Principia

Lex. III.
Actioni contrariam semper et aequalem esse reactionem sive corporum duorum actiones in se mutuo semper esse aequales et in partes contrarias dirigi.

3. Gesetz:
Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.

Es ist nicht sinnvoll, das 3. Gesetz auf die Kurzformel "actio gleich reactio" zu bringen. "Actio" und "reactio" legen eine zeitliche Abfolge von Ursache und verzögerter Wirkung nahe, während in den Erläuterungen zum 3. Axiom gerade die Gleichzeitigkeit hervorgehoben wird. "Actio" und "reactio" implizieren außerdem eine Wertung von aktiver Ursache und passiver Folge, die nahe legt, in der Gegenwirkung nur eine Art "passiven Widerstand" zu sehen und keine Kraft, die "aktiv" am Wechselwirkungspartner angreift.