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Grundwissen

Massendefekt und Bindungsenergie

Das Wichtigste auf einen Blick

  • Die Masse eines Atomkerns ist immer kleiner als die Summe der Masse der Nukleonen, aus denen er besteht. Die Differenz dieser Massen bezeichnet man als Massendefekt oder Massenverlust \(\Delta m\).
  • Beim "Zusammenbau" eines Atomkerns aus einzelnen Nukleonen wird immer Energie frei. Diese freiwerdende Energie bezeichnet man als Bindungsenergie \(B\).
  • Massendefekt und Bindungsenergie hängen nach EINSTEINs Masse-Energie-Beziehung durch \(B=\Delta m \cdot c^2\) zusammen.
  • Als Bindungsenergie pro Nukleon bezeichnet man den Wert \(\frac{B}{A}\).
  • Das Nickel-Isotop \(\rm{Ni}-62\) besitzt die größte Bindungsenergie pro Nukleon.
Aufgaben Aufgaben

Massendefekt von Atomkernen

Abb. 1 Massenverlust von Proton und Neutron bei der Verbindung zu Deuterium

Die Animation in Abb. 1 zeigt ein Beispiel für einen der verblüffendsten Effekte der Physik, der ab dem Jahr 1919 von dem englischen Physiker Francis William ASTON (1877-1945) beobachtet werden konnte:

Die Masse eines \({}_1^2{\rm{H}}\)-Kerns (gebildet aus einem Proton und einem Neutron) ist kleiner als die Summe der Massen des Protons und des Neutrons.

Wir können dies leicht mit Hilfe der Literaturwerte bestätigen:

\(m_{\rm{p}} = 1{,}007\,276\,467\,{\rm{u}}\)

\(m_{\rm{n}} = 1{,}008\,664\,916\,{\rm{u}}\)

\(m_{\rm{p}} + m_{\rm{n}} = 1{,}007\,276\,467\,{\rm{u}} + 1{,}008\,664\,916\,{\rm{u}} = 2{,}015\,941\,383\,{\rm{u}}\)

\({m_{\rm{K}}}\left( {{}_1^2{\rm{H}}} \right) = 2{,}013\,553\,213\,{\rm{u}}\)

Die Differenz die beiden letzten Massen beträgt\[\begin{eqnarray}\Delta m &=& \left( {{m_{\rm{p}}} + {m_{\rm{n}}}} \right) - {m_{\rm{K}}}\left( {{}_1^2{\rm{H}}} \right)\\ &=& 2{,}015\,941\,383\,{\rm{u}} - 2{,}013\,553\,213\,{\rm{u}}\\ &=& 0{,}002\,388\,170\,{\rm{u}}\end{eqnarray}\]Diese Differenz \(\Delta m\) bezeichnet man als Massendefekt oder Massenverlust.

Dieser Massendefekt ist bei allen Atomkernen zu beobachten.

Massendefekt

Die Masse \({m_{\rm{K}}}\left( {{}_Z^{Z + N}{\rm{X}}} \right)\) eines Atomkerns \({{}_Z^{Z + N}{\rm{X}}}\) ist immer kleiner als die Summe \(Z \cdot m_{\rm{p}} + N \cdot m_{\rm{n}}\) der Massen der Nukleonen, aus denen er besteht.

Als Massendefekt oder Massenverlust \(\Delta m\) des Atomkerns bezeichnet man die Differenz\[\Delta m = Z \cdot {m_{\rm{p}}} + N \cdot {m_{\rm{n}}} - {m_{\rm{K}}}\left( {{}_Z^{Z + N}{\rm{X}}} \right)\]

Massendefekt des \({}_2^4{\rm{He}}\)-Kerns
Aufgabe

Berechne den Massendefekt des \({}_2^4{\rm{He}}\)-Kerns.

Es ist \(m_{\rm{p}} = 1{,}007\,276\,467\,{\rm{u}}\), \(m_{\rm{n}} = 1{,}008\,664\,916\,{\rm{u}}\) und \({{m_{\rm{K}}}\left( {{}_2^4{\rm{He}}} \right)} = 4{,}001\,506\,179\,\rm{u}\).

Lösung

Mit den gegebenen Größen ergibt sich\[\begin{aligned}\Delta m &= 2 \cdot {m_{\rm{p}}} + 2 \cdot {m_{\rm{n}}} - {m_{\rm{K}}}\left( {{}_2^4{\rm{He}}} \right)\\ &= 2 \cdot 1{,}007\,276\,467\,{\rm{u}} + 2 \cdot 1{,}008\,664\,916\,{\rm{u}} - 4{,}001\,506\,179\,{\rm{u}}\\ &= 0{,}030\,376\,587\,{\rm{u}}\end{aligned}\]

Bindungsenergie von Atomkernen

Die Ursache des Massendefekts ist - wie wir gleich sehen werden - die sogenannte Bindungsenergie \(B\) (oder \(E_{\rm{B}}\)) des Atomkerns. Um zu verstehen, was diese Bindungsenergie des Atomkerns ist, bauen wir uns gedanklich einen \({{}_1^2{\rm{H}}}\)-Kern aus einem Proton \(\rm{p}\) und einem Neutron \(\rm{n}\), die zuerst sehr weit voneinander entfernt sind, zusammen. Wir vernachlässigen im Folgenden die (anziehende) Gravitationskraft zwischen Proton und Neutron, da diese gegenüber den anderen wirkenden Kräften verschwindend klein ist.

Da das Proton elektrisch positiv geladen und das Neutron elektrisch neutral ist, wirkt zuerst einmal keine Kraft zwischen den beiden Teilchen. Die beiden Teilchen können sich also annähern, ohne dass das System Arbeit verrichtet.

Kommen sich die beiden Teilchen aber sehr nah, so wirkt zwischen ihnen plötzlich die sehr starke, anziehende Kernkraft. Bei der weiteren Annäherung der beiden Teilchen verrichtet also das System aus Proton und Neutron Arbeit und verliert dabei aufgrund der Energieerhaltung Energie. Diese abgegebene Energie bezeichnen wir als Bindungsenergie des Atomkerns.

Bindungsenergie

Beim "Zusammenbau" eines Atomkerns aus einzelnen Nukleonen wird immer Energie frei. Diese freiwerdende Energie bezeichnet man als Bindungsenergie \(B\).

Die Bindungsenergie hat ein positives Vorzeichen und kennzeichnet damit einen exothermen Vorgang beim Zusammenbau eines Atomkerns.

Hinweise
  • Die Bezeichnung Bindungsenergie ist ein gängiger Fachausdruck, aber sprachlich etwas unglücklich gewählt. Sie führt – besonders mit einem nachfolgenden Genitiv, wie z. B. Bindungsenergie „des \({{}_1^2{\rm{H}}}\)-Kerns“ – leicht zu dem Missverständnis, es handele sich um einen Energiebetrag, der in dem Atomkern vorhanden ist und aus ihm freigesetzt werden kann. Richtig ist das Gegenteil: Die Bindungsenergie ist bereits bei der Bildung des Atomkerns von dem System aus Protonen und Neutronen freigesetzt und abgegeben worden, ist also nun nicht mehr verfügbar.
  • Enthält ein Atomkern bereits ein Proton, so muss beim "Transport" jedes weiteren Protons zum Kern hin zuerst einmal Arbeit von außen verrichtet (und damit dem System Energie zugeführt) werden, um die abstoßende Kraft zwischen den positiv geladenen Protonen zu überwinden. Dies muss solange geschehen, bis das Proton so nahe an den Kern herantransportiert worden ist, dass die anziehende starke Kernkraft aller Nukleonen überwiegt, das Proton vom Kern angezogen und damit Arbeit an uns verrichtet wird und das System dann Energie verliert. Die Bindungsenergie ist dann die Differenz aus abgegebener und zugeführter Energie des Systems.
  • Die Bindungsenergie \(B\) eines Atomkerns ist zwar mit Hilfe von theoretischen Modellen ungefähr berechenbar, wir bestimmen aber die Bindungsenergie aus dem viel einfacher bestimmbaren Massendefekt \(\Delta m\) der Massen der Ausgangsprodukte und des Endprodukts.

Bindungsenergie und Massendefekt

Nach der wohl berühmtesten Formel der Physik, der Masse-Energie-Beziehung \(E = m \cdot c^2\) von Albert EINSTEIN (1879-1955) ist die Bindungsenergie \(B\), die ein Atomkern beim "Zusammenbauen" abgegeben hat, äquivalent zu einem Verlust \(\Delta m\) an Masse des Atomkerns gegenüber der Summe der Massen seiner Einzelteile. EINSTEINs Masse-Energie-Beziehung lautet also in diesem Fall\[B = \Delta m \cdot {c^2}\]

Bauen wir allgemeiner aus \(Z\) Protonen und \(N\) Neutronen einen Atomkern \({{}_Z^{Z + N}{\rm{X}}}\) zusammen, so gilt für den Massendefekt\[\Delta m = Z \cdot {m_{\rm{p}}} + N \cdot {m_{\rm{n}}} - {m_{\rm{K}}}\left( {{}_Z^{Z + N}{\rm{X}}} \right)\]

Zusammenhang zwischen Massendefekt und Bindungsenergie

Nach EINSTEINs Masse-Energie-Beziehung \(E=m \cdot c^2\) besteht zwischen dem Massendefekt \(\Delta m\) und der Bindungsenergie \(B\) der Zusammenhang\[B = \Delta m \cdot {c^2}\]Mit diesem Zusammenhang lässt sich die Bindungsenergie \(B\) eines Atomkerns \({{}_Z^{Z + N}{\rm{X}}}\) aus der Kernmasse \({m_{\rm{K}}}\left( {{}_Z^{Z + N}{\rm{X}}} \right)\) und den Massen der enthaltenen Nukleonen bestimmen:\[B=\left( Z \cdot {m_{\rm{p}}} + N \cdot {m_{\rm{n}}} - {m_{\rm{K}}}\left( {{}_Z^{Z + N}{\rm{X}}} \right) \right) \cdot c^2\]

Hinweis

Beim Berechnen von Bindungsenergien benötigst du häufig den Wert \(1\,\rm{u} \cdot {c^2}\) in der Maßeinheit \({\rm{eV}}\). Hierfür gilt\[\begin{aligned}1\,{\rm{u}} \cdot {c^2} &= {1{,}66054 \cdot {10^{ - 27}}\,{\rm{kg}} \cdot {\rm{ }}{\left( {2{,}99792 \cdot {{10}^8}\,\frac{{\rm{m}}}{{\rm{s}}}} \right)^2}}\\ &= {1{,}49241 \cdot {10^{ - 10}}\,{\rm{J}}}\\ &=  {\frac{{1{,}49241 \cdot {{10}^{ - 10}}}}{{1{,}60218 \cdot {{10}^{ - 19}}}}\,{\rm{eV}}} \\ &= {9{,}3149 \cdot {10^8}\,{\rm{eV}}} \\ &=  931{,}49\,{\rm{MeV}}\end{aligned}\]

Bindungsenergie des \({}_2^4{\rm{He}}\)-Kerns
Aufgabe

Berechne die Bindungsenergie des \({}_2^4{\rm{He}}\)-Kerns.

Es ist \(m_{\rm{p}} = 1{,}007\,276\,467\,{\rm{u}}\), \(m_{\rm{n}} = 1{,}008\,664\,916\,{\rm{u}}\) und \({{m_{\rm{K}}}\left( {{}_2^4{\rm{He}}} \right)} = 4{,}001\,506\,179\,\rm{u}\).

Lösung

Mit den gegebenen Größen ergibt sich\[\begin{aligned}B &= \Delta m \cdot {c^2}\\ &= \left[ {{2 \cdot {m_{\rm{p}}} + 2 \cdot {m_{\rm{n}}}} - {m_{\rm{K}}}\left( {{}_2^4{\rm{He}}} \right)} \right] \cdot {c^2}\\ &= \left[ {2 \cdot 1{,}007\,276\,467\,{\rm{u}} + 2 \cdot 1{,}008\,664\,916\,{\rm{u}} - 4{,}001\,506\,179\,{\rm{u}}} \right] \cdot {c^2}\\ &= 0{,}030\,376\,587 \cdot {\rm{u}} \cdot {c^2}\\ &= 0{,}030\,376\,587 \cdot 931{,}49\,{\rm{MeV}}\\ &= 28{,}30\,{\rm{MeV}}\end{aligned}\]

Mittlere Bindungsenergie pro Nukleon

Man kann nun - wie bei der obigen Aufgabe - für alle stabilen Kerne durch experimentelle Bestimmung des Massendefektes die jeweilige Bindungsenergie ausrechnen.  Es ist klar, dass die Bindungsenergie der Atomkerne mit größer werdender Ordnungszahl immer weiter ansteigt: der schwerere Kern besitzt mehr Nukleonen, und bei jedem Einbau eines Nukleons in einen stabilen Kern wird Energie frei, was zu einer insgesamt höheren Bindungsenergie führt.

Von großer Bedeutung ist aber nun, dass dieser Anstieg nicht linear mit der Ardnungszahl ansteigt. Um dies zu verdeutlichen betrachtet man die sogenannte mittlere Bindungsenergie pro Nukleon \(\frac{B}{A}\). Sie ist ein ungefähres Maß dafür, wie stark ein Nukleon an einen Kern gebunden ist.

Mittlere Bindungsenergie pro Nukleon

Als mittlere Bindungsenergie pro Nukleon eines Atomkerns bezeichnet man den Quotienten \(\frac{B}{A}\) der gesamten Bindungsenergie \(B\) (Bindungsenergie aller Nukleonen) und der Massenzahl \(A\) des Atomkerns.

Die mittlere Bindungsenergie pro Nukleon ist ein ungefähres Maß dafür, wie stark ein einzelnes Nukleon an den Atomkern gebunden ist.

Mittlere Bindungsenergie pro Nukleon des \({}_2^4{\rm{He}}\)-Kerns
Aufgabe

Berechne mit Hilfe der Lösung der vorherigen Aufgabe die mittlere Bindungsenergie pro Nukleon des \({}_2^4{\rm{He}}\)-Kerns.

Lösung

Mit \(B=28{,}30\,\rm{MeV}\) und \(A=4\) ergibt sich (auf drei gültige Ziffern gerundet)\[\frac{B}{A} = \frac{28{,}30\,\rm{MeV}}{4} = 7{,}08\,\rm{MeV}\]

In der folgenden Abbildung ist \(\frac{B}{A}\) über der Nukleonenzahl \(A\) aufgetragen.

Joachim Herz Stiftung
Abb. 2 Diagramm der mittleren Bindungsenergie pro Nukleon

Die mittlere Bindungsenergie pro Nukleon schwankt bei kleinen Massenzahlen stark. Sie weist bei \({}_2^4{\rm{He}}\) ein ausgeprägtes relatives Maximum (höchster Punkt im Vergleich zur unmittelbaren Umgebung) auf. Ähnliches gilt z.B. auch für \({}_6^{12}{\rm{C}}\) und \({}_8^{16}{\rm{O}}\). Bei etwa \(A = 56\) (\({}_{26}^{56}{\rm{Fe}}\)) erreicht die mittlere Bindungsenergie pro Nukleon ihren größten Wert, um dann zu schwereren Kernen hin wieder abzufallen. Dieser Rückgang der mittleren Bindungsenergie ist auf die langreichweitigen, abstoßenden elektrischen Kräfte zwischen den Protonen zurückzuführen, wegen denen weniger Arbeit beim "Herantransportieren" weiterer Nukleonen verrichtet und damit weniger Energie vom System abgegeben werden muss.

Merke: Liegen die Endprodukte einer Reaktion im \(A\)-\(\frac{B}{A}\)-Diagramm höher als die Ausgangsprodukte, so ist die Reaktion exotherm.