Die in einem physikalischen Experiment gewonnenen Messwerte können nur dann sinnvoll ausgewertet werden, wenn der Typ der mathematischen Funktion bekannt ist, durch die die Abhängigkeiten zwischen den relevanten Größen beschrieben werden kann. Aus prinzipiellen Gründen kann der Typ dieser Funktion aber niemals experimentell, sondern nur durch theoretische Überlegungen bestimmt werden. Diese werden für das Einschalten eines Stromkreises mit einem Widerstand und einer Spule im Folgenden durchgeführt.
Versuchsaufbau
Abb. 1 zeigt dir die Skizze der Schaltung, mit der das Ein- und Ausschalten eines Stromkreises mit einem Widerstand und einer Spule (\(R\,L\)-Kreis) untersucht werden kann. Die Schaltskizze zeigt folgende Bauteile:
- Eine elektrische Quelle mit der Nennspannung \(U_0\) zur Versorgung des Stromkreises.
- Einen Umschalter \(\rm{S}\), mit dem zwischen zwei Maschen gewechselt werden kann.
- Einen Widerstand der Größe \(R\).
- Eine Spule der Induktivität \(L\).
- Einen Strommesser für die Stromstärke \(I\).
- Drei Spannungsmesser für die Spannungen \(U_0\), \(U_R\) und \(U_L\).
Einschaltvorgang
Beim Einschalten des Stromkreises befindet sich der Schalter \(\rm{S}\) in der horizontalen Position, so dass wir die "große" Masche der Schaltung ("Einschaltmasche") betrachten müssen.
Die Polung der elektrischen Quelle mit dem "+"-Pol oben und dem "-"-Pol unten legt den Zählpfeil fest, der im Uhrzeigersinn dreht. Dies ist durch den grünen Kreispfeil in der Einschaltmasche gekennzeichnet. Alle Messgeräte sind so geschaltet, dass der Zählpfeil von ihrem "+"-Pol zu ihrem "-"-Pol zeigt. Dies ist beim Strommesser und allen Spannungsmessern so gekennzeichnet.
- Während des Einschaltvorgangs zeigt der Spannungsmesser über der elektrischen Quelle einen konstanten negativen Wert (\(U_0<0\)).
- Der Strom fließt in Richtung des Zählpfeils. Der Strommesser und der Spannungsmesser über dem Widerstand zeigen jeweils positive Werte (\(I>0\) und \(U_R>0\)).
- Wegen der sich vergrößernden Stromstärke induziert die Spule eine Induktionsspannung. Der Spannungsmesser über der Spule zeigt positive Werte (\(U_L>0\)). Hinweis: Wäre die Spannung über der Spule negativ, würde sie als weitere elektrische Quelle im Stromkreis wirken und den Anstieg der Stromstärke nicht behindern, sondern verstärken.
Am Ende des Einschaltvorgangs fließt durch die Schaltung ein konstanter Strom der Stärke \(I=\frac{\left| {{U_0}} \right|}{R}\). Man misst die Spannungen \(U_R=\left| {{U_0}} \right|\) und \(U_L=0\,\rm{V}\).
Theorie
Beachtet man, dass die Spannung \({U_0}\) über der Quelle negativ - wir schreiben deshalb \({U_0} = - \left| {{U_0}} \right|\) - gerechnet wird, so gilt nach der KIRCHHOFF'schen Maschenregel zu jedem Zeitpunkt \(t\) des Einschaltvorgangs die Gleichung\[{U_0} + {U_R}(t) + {U_L}(t) = 0\]Mit \({U_R}(t) = R \cdot I(t)\) (OHM'sches Gesetz; \(I(t)\): Stromstärke im Stromkreis während des Einschaltvorgangs) und \({U_L}(t) = L \cdot \dot I(t)\) (Gesetz für die Induktionsspannung; \(\dot I(t)\): Änderung der Stromstärke im Stromkreis während des Einschaltvorgangs) ergibt sich\[{U_0} + R \cdot I(t) + L \cdot \dot I(t) = 0\]Setzt man \({U_0} = - \left| {{U_0}} \right|\), addiert auf beiden Seiten der Gleichung \(\left| {{U_0}} \right|\), dividiert beide Seiten der Gleichung durch \(L\) und vertauscht die beiden Summanden auf der linken Seite der Gleichung, so erhält man\[\dot I(t) + \frac{R}{L} \cdot I(t) = \frac{{\left| {{U_0}} \right|}}{L}\]Dies ist - zusammen mit der Anfangsbedingung \(I(0\rm{s}) = 0{\rm{A}}\) - die inhomogene Differentialgleichung 1.Ordnung für die Stromstärke \(I(t)\) im Stromkreis während des Einschaltvorgangs. Die Größe \(\tau = \frac{L}{R}\) heißt Zeitkonstante.
Diese Differentialgleichung wird gelöst durch die Funktion\[I(t) = \frac{{\left| {{U_0}} \right|}}{R} \cdot \left( {1 - {e^{ - \frac{R}{L} \cdot t}}} \right)\]Somit beschreibt die Funktion \(I(t)\) den zeitlichen Verlauf der Stromstärke im Stromkreis während des Einschaltvorgangs.
Stromstärke im Stromkreis
Aufgabe
Zeige, dass die Funktion \(I(t)\) die Differentialgleichung erfüllt. Leite dazu die Funktion \( I(t)\) ab, setze \(\dot I(t)\) und \( I(t)\) in die Differentialgleichung ein und fasse schließlich so weit zusammen, dass eine wahre Aussage entsteht.
Zeige, dass die Funktion \(I(t)\) die Anfangsbedingung \(I(0) = 0\,{\rm{A}}\) erfüllt.
Bestimme den Grenzwert \(\mathop {\lim }\limits_{t \to \infty } I(t)\).
Erstelle den Graph der Funktion \(I(t)\) für \(R = 10\,\Omega \), \(L = 5\,{\rm{H}}\) und \(\left| {{U_0}} \right| = 10\,{\rm{V}}\) und beschreibe den Verlauf des Graphen unter physikalischen Gesichtspunkten. Berücksichtige dabei auch die Ergebnisse der Aufgabenteile b) und c).
Zeige, dass nach der Zeit \(t = \tau \) die Stromstärke in der Schaltung ca. \(63\% \) der endgültigen Stromstärke beträgt.
Berechne die Zeit \({t_{\rm{H}}}\), nach der die Stromstärke auf die Hälfte der endgültigen Stromstärke angestiegen ist.
Spannung über der Spule
Aufgabe
Zeige mit Hilfe des Zusammenhangs \({U_L}(t) = L \cdot \dot I(t)\), dass die Funktion \({U_L}(t) = \left| {{U_0}} \right| \cdot {e^{ - \frac{R}{L} \cdot t}}\) den zeitlichen Verlauf der Spannung über der Spule während des Einschaltvorgangs beschreibt.
Berechne die Spannung über der Spule zum Zeitpunkt \(t=0\,\rm{s}\).
Bestimme den Grenzwert \(\mathop {\lim }\limits_{t \to \infty } {U_L}(t)\).
Erstelle den Graph der Funktion \({U_L}(t)\) für \(R = 10\,\Omega \), \(L = 5\,{\rm{H}}\) und \(\left| {{U_0}} \right| = 10\,{\rm{V}}\) und beschreibe den Verlauf des Graphen unter physikalischen Gesichtspunkten. Berücksichtige dabei auch die Ergebnisse der Aufgabenteile b) und c).
Zeige, dass nach der Zeit \(t = \tau \) die Spannung über der Spule nur noch ca. \(37\% \) der ursprünglichen Spannung beträgt.
Berechne die Zeit \({t_{\rm{H}}}\), nach der die Spannung über der Spule auf die Hälfte der ursprünglichen Spannung abgefallen ist.
Spannung über dem Widerstand
Aufgabe
Zeige mit Hilfe des Zusammenhangs \({U_R}(t) = R \cdot I(t)\), dass die Funktion \({U_R}(t) = \left| {{U_0}} \right|\left( {1 - {e^{ - \frac{R}{L}\cdot t}}} \right)\) den zeitlichen Verlauf der Spannung über dem Widerstand während des Einschaltvorgangs beschreibt.
Berechne die Spannung über dem Widerstand zum Zeitpunkt \(t=0\,\rm{s}\).
Bestimme den Grenzwert \(\mathop {\lim }\limits_{t \to \infty } {U_R}(t)\).
Erstelle den Graph der Funktion \({U_R}(t)\) für \(R = 10\,\Omega \), \(L = 5\,{\rm{H}}\) und \(\left| {{U_0}} \right| = 10\,{\rm{V}}\) und beschreibe den Verlauf des Graphen unter physikalischen Gesichtspunkten. Berücksichtige dabei auch die Ergebnisse der Aufgabenteile b) und c).
Zeige, dass nach der Zeit \(t = \tau \) die Spannung über dem Widerstand ca. \(63\% \) der endgültigen Spannung beträgt.
Berechne die Zeit \({t_{\rm{H}}}\), nach der die Spannung über dem Widerstand auf die Hälfte der endgültigen Spannung angestiegen ist.
Beim Einschalten einer Spule über einen Widerstand durch eine elektrische Quelle führt diese beiden Bauteilen elektrische Energie zu. Während ein Teil dieser Energie im OHM'schen Widerstand in Wärme umgewandelt wird, verbleibt der Rest als Feldenergie im magnetischen Feld der Spule.
Leistung am Widerstand
Aufgabe
Bestimme mit Hilfe des Zusammenhangs \(P_R = U_R \cdot I_R = R \cdot {I^2}\) den Funktionsterm der Funktion \(P_R(t)\), die den zeitlichen Verlauf der elektrischen Leistung, die im OHM'schen Widerstand während des Einschaltvorgangs in Wärme umgewandelt wird, beschreibt.
Berechne die am Widerstand abgegebene Leistung zum Zeitpunkt \(t=0\,\rm{s}\).
Bestimme den Grenzwert \(\mathop {\lim }\limits_{t \to \infty } {P_R}(t)\).
Erstelle den Graph der Funktion \(P(t)\) für \(R = 10\,\Omega \), \(L = 5\,{\rm{H}}\) und \(\left| {{U_0}} \right| = 10\,{\rm{V}}\) und beschreibe den Verlauf des Graphen unter physikalischen Gesichtspunkten. Berücksichtige dabei auch die Ergebnisse der Aufgabenteile b) und c).
Leistung an der Spule (mathematisch anspruchsvoll, aber lösbar)
Aufgabe
Bestimme mit Hilfe des Zusammenhangs \(P_L = U_L \cdot I\) den Funktionsterm der Funktion \(P_L(t)\), die den zeitlichen Verlauf der elektrischen Leistung, die der Spule während des Einschaltvorgangs zugeführt wird, beschreibt.
Berechne die an der Spule abgegebene Leistung zum Zeitpunkt \(t=0\,\rm{s}\).
Bestimme den Grenzwert \(\mathop {\lim }\limits_{t \to \infty } {P_L}(t)\).
Erstelle den Graph der Funktion \(P_L(t)\) für \(R = 10\,\Omega \), \(L = 5\,{\rm{H}}\) und \(\left| {{U_0}} \right| = 10\,{\rm{V}}\) und beschreibe den Verlauf des Graphen unter physikalischen Gesichtspunkten. Berücksichtige dabei auch die Ergebnisse der Aufgabenteile b) und c).
Bestimme rechnerisch den Zeitpunkt \(t\), an dem der Spule die maximale elektrische Leistung \({P_{L,\max }}\) zugeführt wird und bestimme auch diese maximale Leistung \({P_{L,\max }}\).
Bestimme mit Hilfe des Zusammenhangs \(P(t) = \frac{{dW(t)}}{{dt}}\) bzw. \(W(t) = \int\limits_0^t {dW(t) = } \int\limits_0^t {P(t)dt} \) rechnerisch die Gesamtenergie \({E_{\rm{Spule}}} = \mathop {\lim }\limits_{t \to \infty } {W_L}(t)\), die der Spule während des gesamten Einschaltvorgangs zugeführt wird.
Physikalisch interessant ist nun noch die Frage, wo die Energie, die der Spule während des Einschaltvorgangs zugeführt wird, gespeichert wird. Hierzu betrachten wir den speziellen Fall einer Zylinderspule mit \(N\) Windungen, der Länge \(l\) und der Querschnittsfläche \(A\). Die Induktivität \(L\) dieser Spule beträgt \(L={\mu _0} \cdot \frac{{N^2} \cdot A}{l}\), aus der bekannten Formel für die magnetische Flussdichte im Inneren der von einem Strom der Stärke \(I_0\) durchflossenen Spule erhält man\[B = {\mu _0} \cdot \frac{N}{l} \cdot {I_0} \Leftrightarrow {I_0} = \frac{1}{{{\mu _0}}} \cdot \frac{l}{N} \cdot B\]Damit ergibt sich\[{E_{{\rm{Spule}}}} = \frac{1}{2} \cdot L \cdot {I_0}^2 = \frac{1}{2} \cdot {\mu _0} \cdot {N^2} \cdot \frac{A}{l} \cdot {\left( {\frac{1}{{{\mu _0}}} \cdot \frac{l}{N} \cdot B} \right)^2} = \frac{1}{2} \cdot \frac{1}{{{\mu _0}}} \cdot {B^2} \cdot \left( {A \cdot l} \right) = \frac{1}{2} \cdot \frac{1}{{{\mu _0}}} \cdot {B^2} \cdot {V_{{\rm{Spule}}}}\]Die Energie, die der Spule beim Einschaltvorgang zugeführt wird, ist also proportional zum Quadrat der magnetischen Flussdichte und zum Volumen der Spule. Dies deutet darauf hin, das die der Spule zugeführte Energie im magnetischen Feld der Spule verbleibt.