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Ausblick

Reaktorkatastrophe von Tschernobyl

IAEA Imagebank USFCRFC
Abb. 1 Das zerstörte Reaktorgebäude in Tschernobyl, am 26. April 1986.

Ein Kernreaktor kann auf keinen Fall wie eine Uranbombe explodieren. Trotzdem sind technische Störungen nie ganz auszuschließen. Als kritischste Störung gilt ein Rohrbruch im Primärkreislauf, da dann die Kühlung des Reaktors ausfällt. Die Überhitzung der Brennelemente (Kernschmelze) kann dazu führen, dass eine große Menge radioaktives Material freigesetzt wird.

Die Sicherheitsvorkehrungen bei den Reaktoren in Mitteleuropa sind zwar extrem aufwändig, aber dort wo menschliche Unzulänglichkeit im Spiel ist, besteht immer noch ein gewisses Restrisiko. Seit es Kernreaktoren gibt, treten auch Störfälle auf.

Einen größeren Bekanntheitsgrad erlangte im Jahre 1979 der Reaktor Three Mile Island bei Harrisburg (USA) als es zum ersten Kernschmelzunfall (partielle Kernschmelze) in einer kommerziellen Anlage kam. Der bei dieser Anlage vorhandene Sicherheitsbehälter verhinderte eine Groß-Katastrophe.

Risikoabschätzungen von "Experten" besagten um diese Zeit, dass eine Kernschmelze ein extrem seltenes Ereignis sein wird. Der Reaktorunfall im russischen Ort Tschernobyl sieben Jahre später (1986) lehrte uns aber, dass diese Abschätzungen nicht sehr aussagekräftig waren. Er zeigte auch, dass nicht nur die unmittelbare Umgebung des Reaktors, sondern auch - je nach Wetterlage - sehr weit entfernte Standorte in starke Mitleidenschaft gezogen werden können.

Weitere Informationen finden sich in einem Artikel des Bundesumweltministeriums "Tschernobyl und die Folgen" [pdf].

Aufbau des Reaktors

Die Katastrophe spielte sich in einem der vier graphitmoderierten Siedewasser-Druckröhren-Reaktoren (RBMK-1000) von Tschernobyl ab. Die elektrische Leistung eines Blocks war 1000 MW.

Die Funktionsweise dieser Reaktoren unterscheidet sich von den in der westlichen Hemisphäre verwendeten Druck- und Siedewasserreaktoren in einigen wesentlichen Punkten, auf die nach der Darstellung des schematischen Aufbaus eingegangen wird.

CC0
Abb. 2 schematischer Aufbau der Tschernobyl Reaktors RBMK-1000
  • Im Gegensatz zu den bei uns meist üblichen Druckwasser-Reaktoren, bei denen das Wasser unter so hohem Druck gehalten wird, dass es nicht siedet, handelte es sich in Tschernobyl um einen Siedewasserreaktor, bei dem das durch die Druckröhren gepumpte Kühlwasser zum Sieden kommt.
  • Als Moderator diente beim Tschernobyl-Reaktor ein Graphitblock von ca. 12 m Durchmesser und ca. 7m Höhe, in den etwa 1700 Bohrungen für die Zirkonrohre eingebracht waren, welche die Uran-Brennelemente enthielten. Darüber hinaus bestanden noch ca. 180 Bohrungen für die borhaltigen, neutronenabsorbierenden Steuerstäbe, mit denen die Leistung des Reaktors geregelt werden konnte.
  • Die bei der Kernspaltung entstehende Wärme wurde vom Wasser, welches man durch die 1700 Druckröhren pumpt, aufgenommen. Das am oberen Ende der Druckrohre vorhandene Wasser-Dampf-Gemisch gelangt durch seitliche Rohranschlüsse zu den Dampftrommeln, wo eine Trennung von Wasser und Dampf stattfindet. Der heiße Dampf wird dann zu den Turbine geleitet, welche die Generatoren zur Stromerzeugung antreiben. Die Druckrohre sind so konstruiert, dass die Brennelemente während des Reaktorbetriebs ausgetauscht werden können.
    Nach der Energieabgabe an den Turbinen wird der "entspannte" Dampf kondensiert und wieder den Dampftrommeln zugeführt (in obiger Zeichnung nicht dargestellt).
  • Das Wasser aus den Dampftrommeln wird durch Pumpen über Wasserverteiler dann wieder auf der Unterseite der Druckröhren als Kühlmittel eingespeist.
  • Der Graphit-Moderator hat eine Betriebstemperatur von ca. 500°C - 700°C. Um eine Entzündung des Graphits zu vermeiden, befindet sich dieser in einem gasdichten Behälter mit einer Schutzgasatmosphäre aus Helium und Stickstoff.

Einige Unterschiede zwischen dem Tschernobyl-Reaktor und den im Westen üblichen Druckwasserreaktoren:

  • Beim Tschernobyl-Reaktor fehlte der Sicherheitsbehälter (meist Stahlbeton von über einem Meter Dicke), welcher die Primärkomponenten des Reaktors umschließt. Dieser Sicherheitsbehälter soll die Radioaktivitätsabgabe an die Umgebung bei einem GAU verhindern.
  • Der Graphitblock kann sich entzünden: Wird der Behälter für das Schutzgas durch eine Explosion zerstört, gelangt Sauerstoff zum heißen Graphit, welcher unter Freisetzung großer Energiemengen verbrennt. Diese Fehlerquelle ist bei wassermoderierten Reaktoren nicht möglich, da Wasser nicht brennt.
  • Positiver Dampfblaseneffekt beim Graphitmoderator
    Tritt bei den in Deutschland üblichen wassermoderierten Reaktoren eine ungewollte Leistungserhöhung ein und kommt es zu einem Verdampfen des Kühlwassers, so findet wohl eine geringere Absorption der Neutronen statt (die Wasserstoffkerne im Dampf liegen nicht so dicht wie im Wasser), die für die Kettenreaktion wichtige Moderation der schnellen Neutronen zu langsamen Neutronen bleibt aber im wesentlichen aus und somit kommt es zu einer Leistungsminderung des Reaktors (negativer Dampfblaseneffekt).

    Entstehen beim Tschernobyl-Reaktor aufgrund einer Leistungserhöhung in den Zirkonrohren Wasserdampfblasen, wo werden ebenfalls weniger Neutronen absorbiert, d.h. es stehen mehr Neutronen für die Spaltung zur Verfügung, aber die für die Kettenreaktion so wichtige Moderation findet dennoch durch den Graphitmoderator statt. Das Entstehen von Dampfblasen führt bei diesem Reaktortyp zur Leistungserhöhung (positiver Dampfblaseneffekt).

Hinweis:
Der Grund, warum man überhaupt auf die Idee kam, Graphit als Moderator zur verwenden, liegt in der - im Vergleich zum normalen (leichten) Wasser - geringen Absorptionswahrscheinlicheit der Neutronen durch Graphit:

  • Benutzt man leichtes Wasser als Moderator, so reichen die 0,7% U-235, die sich im Natururan befinden, nicht für den Reaktorbetrieb aus. Man muss daher zunächst eine Anreicherung mit U-235 auf 3% vornehmen (Leichtwasserreaktor).
  • Reaktoren mit einem Graphitmodertor lassen sich dagegen schon mit Natururan betreiben. Der ersten von Enrico Fermi entworfene Reaktor funktionierte auf diese Weise.

Chronologie des Reaktorunglücks

Eine sehr detaillierte Chronologie des Reaktorunglücks findet ihr bei Wikipedia.

> Wikipedia: Nuklearkatastrophe von Tschernobyl: Chronologie

Radioaktive Wolke

Beim Brand des Tschernobyl-Reaktors herrschten Temperaturen von ca. 2500°C. Die Schadstofffahne, welche die freigesetzten radioaktiven Elemente (insbesondere Jod 131 und Cäsium 137) enthielt, reichte in eine Höhe von mehreren hundert bis etwas über 1500 Meter. Da die Windrichtungen zu dieser Zeit täglich wechselten ergaben sich Schadstofffahnen in östlicher, nördlicher und westlicher Richtung.

Bayern wurde am Abend des 29. April 1986 von den radioaktiven Wolken erreicht, die am Morgen des 27. April von Tschernobyl ausgingen. Besonders nachteilig wirkten sich die bei uns herrschenden intensiven Regenfälle aus, durch welche die radioaktiven Stoffe ausgewaschen und niedergeschlagen wurden.

Da die Verantwortlichen in der Sowjetunion die Reaktorkatastrophe erst drei Tage nach deren Eintritt bekannt gaben, ging wertvolle Zeit für die Schutz- und Koordinationsmaßnahmen in den betroffenen Ländern verloren.

Umweltfolgen des Unfalls

Es ist bis heute noch nicht ganz klar, welche Aktivität die Strahlung hatte, welche durch den Reaktorunfall freigesetzt wurde. Die Tschernobyl-Information schätzt die Aktivität auf ca. 50 Millionen bis 250 Millionen Curie.

Aus dem zerstörten Reaktor entwichen vor allem in den ersten zehn Tagen nach dem Unfall mehr als 40 verschiedene Radionuklide. Für die Analyse der Folgen des Unfalls sind dabei vor allem Jod (Jod 131) und Cäsium (Cs 137) sowie Strontium (Sr 90) von Bedeutung.

CC BY-SA 2.5, via Wikimedia Commons By Sting Editors: Luxo, Devil m25, Enricopedia
Abb. 4 Verstrahlung durch Caesium-137 1996 — 10 Jahre nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl. Die Daten für diese Grafik stammen aus dem "CIA Handbook of International Economic Statistics (1996)"

Während in den ersten Wochen die Hauptgefahr vom radioaktiven Jod ausging, müssen bei den Langzeitfolgen vor allen Dingen die Nuklide Strontium 90 und Cäsium 137 beachtet werden. Auch heute ist die Kontamination in den dargestellten Gebieten (Abb. 1) noch erheblich höher als in anderen Gegenden der Welt. Da die Bevölkerung in dieser Gegend sehr arm ist, kann sie auf die radioaktiv belastete Nahrung aus der unmittelbaren Umgebung nicht verzichten.

Folgen in Deutschland

Unmittelbar nach dem Fallout gelangten die radioaktiven Substanzen über Blätter und Nadeln in die Nahrungsmittel und dann über die Tiere auch in Milch und Fleisch. In Deutschland wurden 1986 von der Strahlenschutzkommission Obergrenzen für die Aktivität bei bestimmten Lebensmitteln festgelegt:
Frischmilch:  500 Bq/l Jod-131    und   370 Bq/l Cäsium
Blattgemüse: 250 Bq/kg Jod-131  und   100 Bq/kg Cäsium

Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthygiene
Abb. 5 Die Graphik des Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthygiene zeigt die Kontamination mit Cs-137 für die alte BRD im Mai 1986. Die stärkste Kontamination in Süddeutschland entspricht etwa dem "schwächsten" Kontaminationsgrad in der oberen Graphik des CIA.

Auch heute noch spielt bei uns die Belastung durch Cäsium eine gewisse Rolle und zwar dessen Aufnahme durch die Wurzeln der Pflanzen. In den vielen Ackerböden wird Cäsium in Tonmineralien z.T. gebunden. Somit gelangt über die Wurzeln wenig Cäsium in die Nahrung. Somit stellt es bei Getreide und Kartoffeln keine große Gefahr mehr dar. In Nahrungsmitteln aus dem Wald (insbesondere bei Speisepilzen und Wildbret) werden aber auch 20 Jahre nach dem Unfall noch deutlich erhöhte Cäsiumwerte registriert. Dies ist auf den im Vergleich zu Ackerflächen anderen Bodenaufbau zurückzuführen.

Der cäsiumabsorbierende Mineralboden ist im Wald mit organischen Schichten (Laub, Nadeln) abgedeckt, in denen das Cäsium gut verfügbar ist. Insbesondere Pilze nehmen dann das Cäsium aus diesen organischen, mit Cäsium kontaminierten Schichten auf.

Beispiele für Cäsiumbelastungen in Deutschland im Jahre 2005 (Mittelwerte)

Stammt das Produkt aus einer besonders belasteten Gegend, kann die Aktivität erheblich über dem unten angegebenen Mittelwert liegen (z.B. Maronenröhrling 1150 Bq/kg ; Wildschein 3290 Bq/kg).

Cs-137 Belastung (Mittelwerte) in Bq/kg bzw. Bq/l
Milch 0,2
Fleisch (Rind, Schwein, Geflügel) 0,5
Blattgemüse 0,2
Kartoffeln / Getreide 0,2
Maronenröhrling 193
Steinpilz 61
Reh 21
Wildschwein 210

 

Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthygiene
Abb. 6 Den Einfluss der künstlichen Radioaktivität auf die Belastung unserer Nahrung zeigt diese Abbildung

 

Gesundheitliche Folgen

Hinweise: Die hier gemachten Angaben stammen weitgehend aus der Broschüre "Tschernobyl - 20 Jahre danach" des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS)

Die Zahlen über Personen, die durch den Reaktorunfall von Tschernobyl verstorben bzw. erkrankt sind, schwanken bei verschiedenen Quellen sehr stark. Dies liegt zum einen daran, dass die Datenerfassung in den betroffenen Ländern nicht sehr exakt ist und zum anderen daran, dass verschiedene Institute mit ihren Zahlenveröffentlichungen gewisse Interessen verfolgen.

Zahl der beteiligten Personen

Zur unmittelbaren Bekämpfung des Reaktorbrandes waren ca. 600 Personen eingesetzt (Betriebsangehörige, Feuerwehrleute, Militär). Zum Teil waren diese Personen über das Gefahrenpotenzial nicht informiert, die Ausrüstung nicht adäquat. Es ist relativ sicher, dass 50 Personen innerhalb weniger Wochen an den Unfallfolgen verstarben. Im Zeitraum zwischen 1986 - 1987 waren etwa 200 000 sogenannte Liquidatoren innerhalb der 30km-Sperrzone mit Rettungs- und Aufräumarbeiten beschäftigt.

Bis ca. 1990 wurden weitere Liquidatoren eingesetzt, so dass deren insgesamte Zahl auf ca. 600 000 anstieg. Die hohe Zahl erklärt sich dadurch, dass man den Einzelnen nur kurze Zeit in der Gefahrenzone einsetzte, um dessen Strahlendosis relativ klein zu halten. Im Jahre 1986 wurden ca. 120 000 Personen aus der unmittelbaren Reaktorumgebung evakuiert. In den darauf folgenden Jahren kamen weitere 220 000 Personen dazu. Außerhalb der Evakuierungszone leben in der weiteren Umgebung mit einer signifikanten Kontamination (mehr als 37 kBq/m2) etwa sieben Millionen Menschen.

Gesundheitliche Folgen rund um Tschernobyl
O. Hug Strahleninstitut
Abb. 7 Entwicklung des Schilddrüsenkrebses in der Region Gomel
O. Hug Strahleninstitut
Abb. 8 Entwicklung des Schilddrüsenkrebses in der Region Gomel

Frühschäden: 50 Personen starben direkt an Verbrennungen und Strahlenschäden. Die hohen Dosen der ß-Strahlung in der unmittelbaren Reaktorumgebung verursachten schwere Verbrennungen der Haut. Die bei stark verstrahlten Patienten durchgeführte Knochenmarks-Transplantation brachte in den meisten Fällen nicht den gewünschten Erfolg.

Spätschäden: Besonders signifikant ist die Zunahme des Schilddrüsenkrebses in den drei am stärksten betroffenen Ländern Weißrussland (Belarus), Russland und Ukraine. Dabei sind insbesondere Kinder und Jugendliche betroffen, die dem Fallout in den ersten Wochen ungeschützt ausgesetzt waren. Die Schilddrüsenkrebsfälle sind auf das radioaktive Jod zurückzuführen, welches sich in der Schilddrüse ansammelt. Zwar wurden unmittelbar nach der Katastrophe an die Bevölkerung Jod-Tabletten verteilt, welche dazu führen sollen, dass die Aufnahme des radioaktiven Jods durch die Schilddrüse vermindert wird. Einen durchschlagenden Erfolg hatte diese Maßnahme jedoch nicht.

Bei Liquidatoren, welche Dosen über 150 mGy abbekommen haben, wurde eine erhöhte Zahl von Leukämiefällen und eine Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen festgestellt. Bei Frauen hat sich in den besonders stark betroffenen Regionen die Häufigkeit des Brustkrebses deutlich erhöht. Schwer zu dokumentieren sind die psychosomatischen Schäden, welche durch den Verlust von Angehörigen, lange Krankheit und Umsiedelung ausgelöst wurden.

Das Tschernobyl-Forum schätzt, dass in den drei am stärksten betroffenen Ländern durch die Reaktorkatastrophe ca. 5000 - 10000 zusätzliche Todesfälle durch Krebs zu verzeichnen sind. Es gibt auch Quellen, die von deutlich höheren, aber auch von deutlich niedrigeren Opferzahlen ausgehen.

Gesundheitliche Folgen in Deutschland

Direkte Strahlenschäden können in Deutschland ausgeschlossen werden. Ein erhöhtes Krebsrisiko in den stärker kontaminierten Gebieten Süddeutschlands kann nicht eindeutig festgestellt werden, da die "natürliche" Krebsrate erheblichen Schwankungen unterworfen ist (BfS). Das Umweltinstitut München spricht dagegen von einer erhöhten Säuglingssterblichkeit in Deutschland nach Tschernobyl.

Die durch den Reaktorunfall resultierende zusätzliche Strahlenexposition der deutschen Bevölkerung wurde je zur Hälfte durch die Nahrungsmittel bzw. durch die externe Bestrahlung verursacht. Die mittlere zusätzliche Strahlenexposition (intern und extern) beträgt summiert über die volle Lebensdauer 0,7 Millisievert (mSv), südlich der Donau steigt dieser Wert auf 1,5 mSv, im Voralpengebiet bis zu 2,5 mSv. Die natürliche Strahlenbelastung über die volle Lebensdauer beträgt dazu im Vergleich ca. 200 mSv, dieser Wert schwankt je nach Wohnort zwischen 100 und 400 mSv. 1000 m Höhenunterschied führen beispielsweise pro Jahr zu 0,15 mSv erhöhter externer Strahlenbelastung.